Alltag mit MG
Alltag mit MG
Sandra ist 23 Jahre alt und lebt im Norden von Deutschland. Erste Symptome der Myasthenie traten bei ihr als Jugendliche auf. Nach einem häuslichen Unfall erhielt sie zum ersten Mal die Diagnose Myasthenie. Diese wurde jedoch wenige Monate später von einem anderen Arzt revidiert, was zu einer Verschlechterung der Symptome führte. Es vergingen mehrere Jahre, bis sie schließlich ein zweites Mal die Diagnose Myasthenia gravis (MG) erhielt – gefolgt von einer entsprechenden Therapie. Durch die Erkrankung musste sie ihren Alltag umstrukturieren, wobei ihr vor allem feste Routinen geholfen haben: etwa Mantras, die sie aufsagt, um Ruhe zu bewahren, oder kontinuierlich ein wenig in Bewegung zu sein, was ihr gut tut. Indem sie diese Sicherheitsstrategien entwickelte, konnte sie Lebensqualität und ein selbstständiges Leben zurückgewinnen.
Die ersten Symptome bemerkte Sandra mit 17 Jahren. Neben der extremen Müdigkeit und Erschöpfung beeinträchtigten sie das Sehen von Doppelbildern in ihrem Alltag: „Also mit den Doppelbildern hat es angefangen und die haben mich gestört.“ Ein halbes Jahr vor Symptombeginn starb ihr Vater, die Covid-19-Pandemie begann und ihr Bruder wurde schwer krank. Zusammen mit den körperlichen Symptomen wurde es Sandra schließlich alles zu viel. Sie unterbrach die 13. Klasse und konzentrierte sich auf ihre Familie.
Der Ursache ihrer Symptome, die mal stärker, mal schwächer ausgeprägt waren, ging sie aufgrund der familiären Belastung und ihres Alters zunächst nicht weiter nach. Erst als die Doppelbilder zu sehr störten, suchte sie einen Neurologen auf, der eine Myasthenie ausschloss. Da die Beschwerden weiterhin bestanden, wandte sie sich anschließend an einen Augenarzt, der ihr eine Prismenbrille zur Korrektur der Augenfehlstellung verschrieb: „Die habe ich dann auch getragen, aber es hat halt nichts gebracht.“ Der Tod ihres Vaters und die schwierige Familiensituation führten dazu, dass sie längere Zeit nicht am Unterricht teilnehmen konnte. Neben den körperlichen Symptomen hatte sie insbesondere nach ihrer Rückkehr in die Schule auch mit psychischen Herausforderungen zu kämpfen: „Die Lehrer hatten mich alle auf dem Kieker, weil ich länger nicht da war. Und haben dann immer Sprüche gemacht und mich irgendwie auch gemobbt.“
Es gab jedoch auch einen Lichtblick: Sie lernte eine Mitschülerin kennen, die im Schulalltag zu einer engen Begleiterin wurde. Zum Glück, denn die gesundheitlichen Probleme ließen Sandra keine Ruhe. An einem Schultag gaben beim Treppensteigen ihre Beine plötzlich nach, sodass sie auf die Treppe fiel. Daraufhin hakte sie sich bei ihrer neuen Freundin zur Sicherheit ein. Während des Abiturs brach Sandra sogar auf dem Weg zu einer Klausur mitten auf der Straße zusammen, ihre Beine waren wie gelähmt. Nur durch Zufall fuhr ihre Freundin gerade vorbei und eilte ihr zu Hilfe. Nachdem sie wieder ehen konnte, ging Sandra zu ihrer Klausur – als sie damit fertig war, sank sie ein weiteres Mal zu Boden.
Die Schwierigkeiten beim Gehen und die Stürze traten nun häufiger auf. Als sie eines Tages allein zu Hause zusammenbrach und hilflos warten musste, bis ihre Mutter kam, rief diese den Krankenwagen: Sandra wurde umgehend in die Unfallchirurgie einer Klinik gebracht. Dort wurde erst nur der Rücken untersucht, an dem sie sich beim Hinfallen einen Bruch zugezogen hatte. Auf Sandras Bitte, nach Ursachen für die Stürze und die Energielosigkeit zu suchen, wurde nicht weiter eingegangen. „Meine Mutter hat dann gesagt, sie nimmt mich nicht mit nach Hause, solange sie nicht weiß, was ich habe.“ Weil Sandras Mutter, selbst im Gesundheitssystem tätig, auf eine genaue Abklärung bestand, kam sie auf die neurologische Station. Dort bestätigte sich rasch der Verdacht der Mutter auf Myasthenie. Es war nicht das letzte Mal, dass Sandra ihrer Mutter dankbar sein konnte, weil diese in Gesprächen mit medizinischen Fachleuten immer hartnäckig nachfragte.
Nach der Diagnose wurde Sandra auf eine entsprechende Therapie eingestellt. Allerdings dosierten sowohl die Ärzte im Krankenhaus als auch der niedergelassene Neurologe, der sie weiterbehandelte, die Medikamente zu stark. So erhielt sie zur Immunsuppression sehr hoch dosiertes Cortison. Die Nebenwirkungen waren gravierend: So kam es neben massiven Magenkrämpfen und nächtlicher Übelkeit auch zu einer deutlichen Gewichtszunahme. Auf Sandra wirkte der Neurologe eher unsicher im Umgang mit ihrer Erkrankung. Ihrer Vermutung nach fiel es ihm schwer, sie an eine Kollegin oder einen Kollegen mit mehr Erfahrung zu verweisen. Sandra machten die Myasthenie-Symptome zunächst weniger zu schaffen und da ihr Vergleichswerte fehlten, arrangierte sie sich halbwegs mit der Situation. Nach zwei Monaten suchte sie einen anderen Arzt auf, der als Spezialist für Myasthenie ausgewiesen war. Dieser revidierte die Diagnose und riet Sandra zum Beenden ihrer bisherigen Therapiemaßnahmen: „Er hat gesagt, ich soll alles absetzen, und ich habe das gemacht, denn wenn ein Arzt das sagt, warum nicht?“ Ihre Symptome hatten sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht dauerhaft körperlich verfestigt und die kurzfristige Therapie führte zunächst zu einer spürbaren Stabilisierung ihres Gesundheitszustandes. Da sie sich mit der Erkrankung noch nicht gut auskannte, nahm sie an, die Myasthenie sei möglicherweise überstanden.
Daraufhin verschlechterte sich Sandras Zustand rapide. Sie konnte nicht mehr gehen, lag nur noch im Bett – und wenn sie doch einmal aufstand, fiel sie häufig. Sie erinnert sich: „Meine Mutter hat den Krankenwagen gerufen, weil ich auch nicht mehr richtig reden konnte.“ Sandra kam daraufhin in die Notaufnahme. An dem Tag war auch der Arzt anwesend, der ihr zuvor geraten hatte, alle Medikamente abzusetzen. Jedoch weigerte er sich, sie zu sehen: „Der meinte, ich hätte nichts und solle wieder gehen.“ Wieder zu Hause ging es Sandra zunehmend schlechter: Sie hatte Probleme mit der Atmung und war nicht mehr in der Lage, sich allein zu drehen oder hinzusetzen. „Ich konnte gar nichts mehr.“
Sandra verbrachte mehrere Monate im Bett liegend und wurde von ihrer Mutter gepflegt. Die Aufnahme in einer psychosomatischen Klinik wurde zur traumatischen Erfahrung: „Nach vier oder fünf Tagen hat meine Mutter mich da rausgeholt, weil ich wirklich dachte, ich sterbe da drin.“ Während des kurzen Aufenthalts wurden Sandras körperliche Beschwerden kaum ernst genommen. Stattdessen fühlte sie sich als „faul“ oder „lustlos“ abgestempelt. Auch im Alltag erhielt sie nur wenig Unterstützung, etwa beim Essen oder Aufstehen, und erlebte Situationen, die eher wie Schikanen wirkten. So wurde ihr Brot ans andere Ende des Zimmers gestellt, obwohl sie zu schwach war, um selbstständig essen, trinken oder aufstehen zu können.
Sandras Zustand wurde auf ihre Psyche geschoben, doch sie war sich sicher, dass die Symptome eine körperliche Ursache haben mussten. Sie verlor durch die enormen Einschränkungen größtenteils den Mut. Denn sobald Alltägliches wie sich die Haare zu bürsten kaum noch gelingt, gerät vieles ins Wanken: „Wenn man keinen Sinn hat, denkt man sich: Was mach‘ ich denn jetzt?“
Gemeinsam mit ihrer Mutter suchte sie weitere unterschiedliche Ärzte auf, bis schließlich ein Augenarzt den Verdacht auf Myasthenie äußerte. Auf Anraten des Augenarztes fuhr Sie in ein Krankenhaus, in dem die Ärzte sie noch nicht kannten. Dort erhielt sie drei Jahre nach der revidierten ersten Diagnose ein zweites Mal den Befund Myasthenie. Sie wurde auf eine Therapie eingestellt, woraufhin sich ihre körperlichen Symptome deutlich verbesserten.
Die Fortschritte ihres Gesamtzustandes wirkten sich auch spürbar auf Sandras mentale Verfassung aus. Sie konnte wieder kleinere alltägliche Aufgaben meistern. Anfangs war es bereits ein Highlight, wenn sie sich allein abduschen konnte, nachdem ihre Mutter ihr mit einem Lifter in die Badewanne geholfen hatte. Im Laufe der Zeit konnte Sandra sich in großer Runde treffen und sich aktiv an den Gesprächen beteiligen. „Ich merkte, wie sich die Grenzen verschoben. Schrittweise kehrten Lebensqualität, Teilhabe und Selbstbestimmung zurück.“
Durch die Erkrankung hatte sie gelernt, selbst die kleinen Dinge wertzuschätzen. Dabei lernte sie ihren Körper und ihre Grenzen neu kennen: „Irgendwann hatte ich so ein Gefühl dafür, was ich kann und was ich nicht kann.“ Durch Ausprobieren und Beobachten erkannte sie Muster und erarbeitete sich so ein Repertoire an Tricks, um Symptomen entgegenzuwirken: „Wenn man sich bewusst darüber ist, was man kann, dann ist man auch nicht so ängstlich oder unsicher, und man bekommt den Willen, mehr erreichen zu wollen.“
Heute möchte Sandra ihr Wissen weitergeben, um andere Betroffene zu bestärken und aufzuklären. Dafür nutzt sie einen Instagram-Kanal, auf dem sie wissenschaftliche Informationen, Erfahrungen mit Symptomen und praktische Tipps teilt. Sandra legt dabei großen Wert darauf, dass viele verschiedene Meinungen gehört werden – zum Beispiel durch Umfragen. Das Feedback aus der Community ist sehr positiv: Der Austausch mit anderen Betroffenen gibt ihr ein gutes Gefühl – auch weil der verständnisvolle Umgang etwas ist, was sie während ihrer langen Odyssee zur zweiten Diagnose oft vermisst hat.
Heute hat Sandra ihren Weg gefunden, mit der Erkrankung umzugehen: „Ich bin am Justieren, meine alten Muster aufzubrechen und zu erweitern. Darin Sicherheit zu finden, das kommt Stück für Stück.“
MED-DE-EFG-2500186; Stand Nov2025